Mittwoch, 14. Juni 2017

Das erste Dorf - Neues aus Nian


Paul M. Belt

Das erste Dorf
Vor langer Zeit taten sich im Nian der Neuzeit Menschen in einer Siedlung zusammen, um gemeinsam zu leben. Der eine konnte eben besser Äcker bewirtschaften, der andere Vieh halten, der dritte war ein guter Holzschaffer und der vierte vermochte mit dem Webstuhl umzugehen wie kein zweiter.
Dies funktionierte zunächst auch sehr gut, bis es zum ersten Mal zu einem ernsthaften Streit kam. Heute weiß niemand mehr, ob es um ein Tier ging, einen Anteil an Ackerland oder um die Qualität eines Kleidungsstückes. Doch dies ist auch nicht wichtig, im Gegensatz zu den Folgen davon. Denn auf der nächsten Versammlung der Gemeinschaft hatten sich die Streithähne bereits einige Mittelzeiten lang einen Schlagabtausch geliefert, als jemand laut rief: „So kann es nicht weitergehen! Jemand muss die Rolle eines Schlichters bekommen, um eine Lösung für einen solchen Zwist zu finden!“
„Willst du etwa einen Herrscher einsetzen?“, warf ein anderer ein. „Das ist nicht meine Vorstellung vom Leben, mich jemandem unterzuordnen, der womöglich sein Leben lang entscheidet, was Recht ist und was nicht! Das hat früher schon nicht funktioniert.“
„So soll es auch nicht sein. Wir werden in jedem Zyklus einen neuen Schlichter wählen“, entgegnete der erste.
Die Mitglieder der Gemeinschaft nickten. Sie berieten sich und setzten schließlich einen kräftigen und durchsetzungsfähigen Mann in das Amt ein. Fortan wurde dieser bei Zwistigkeiten um Schlichtung gebeten. Nicht selten musste er entscheiden, wer der rechtmäßige Eigentümer einer Sache war. Einige Menschen des Dorfs kratzten sich am Kopf. „Rechtmäßiges Eigentum“ – über so einen Begriff hatten sie sich vorher noch nie Gedanken machen müssen.
In dem Maße, wie die Dorfgemeinschaft größer wurde, vermehrten sich auch die Aufgaben des Schlichters, der mittlerweile der Einfachheit halber als „Dorfwart“ bezeichnet wurde. Und das Dorf wuchs schnell, die Vorteile der Arbeitsteilung waren einfach zu groß, um sie als Außenstehender ignorieren zu können. Der Dorfwart hatte nun keine Zeit mehr, etwas anderes zu tun als Recht zu sprechen und für Ordnung zu sorgen. Selbstverständlich musste er aber dennoch von etwas leben, also nahm er von allen Mitgliedern der Gemeinschaft einen kleinen Obolus an den von ihnen hergestellten Dingen.
Schon bald entdeckten die Bewohner, dass eine Aufrechnung von Leistungen gegen Güter oder ein bloßes Tauschen von Dingen ziemlich unpraktisch war, wenn die entsprechenden Waren schnell verdarben. Auf gemeinsamen Beschluss hin wurden „besondere“ Güter eingeführt, die sehr langlebig waren und daher oft von einem zum anderen weitergegeben werden konnten. Das Schöne an diesen sogenannten „Münzen“ war, dass man die in Eigenarbeit hergestellten Waren gegen sie eintauschen konnte und somit den Wert der eigenen Arbeit über die Zeit hinweg bewahren konnte. Ein Tausch, an dem Münzen beteiligt waren, wurde von diesem Zeitpunkt an als „Kauf“ oder „Verkauf“ bezeichnet. Der Vorteil gegenüber dem bisherigen Tauschen war so groß, dass bald alle Geschäfte mit Hilfe von Münzen abgewickelt wurden. Auch dem Dorfwart war dies sehr recht, konnte sich doch auch er seine Dienstleistung nun in dauerhaften Werten bezahlen lassen. Nur wenn es Schwierigkeiten gab, beispielsweise dass jemand Ware ohne Bezahlung in Anspruch nehmen wollte oder selbst Münzen aus weniger gutem Material herstellte, die ein anderer dann nicht annehmen wollte, war jedes Mal seine Schlichtung erforderlich. Es dauerte nicht lange, da war klar: Dem Dorfwart musste die Gewalt zugesprochen werden, zu entscheiden, welche Münze einen rechtmäßigen Gegenwert darstellte und welche nicht. Der Urkundler des Dorfes notierte an diesem Tag: „Nun obliegt es dem Dorfwart, die Münzen kraft seines Amtes zu besichern.“
Eines Tages nun kam eine alte Frau mit schlohweißem Haar und einem langen Umhang in das Dorf. Sie setzte sich auf einen Stein am zentralen Marktplatz und beobachtete eine sehr lange Weile das dortige Treiben. Nachdem sie begriffen hatte, wie das Dorf funktionierte, stand sie auf und begab sich zum Haus des Dorfwarts. Dieser ließ sie freundlich ein, bot ihr einen Stuhl an und fragte nach ihrem Begehr. Kaum hatte die alte Dame Platz genommen, hob sie auch schon an zu sprechen: „Ihr wisst, wohin die Reise dieser Dorfgemeinschaft geht, oder?“
Der Dorfwart runzelte die Stirn und erwiderte: „Das klingt in meinen Ohren, als ob Sie sich Sorgen machten. Weshalb denn, dem Dorf geht es doch gut?“
„Das tut es tatsächlich – noch“, meinte die Frau mit bekümmertem Gesichtsausdruck. „Genauso hat es damals auch begonnen, zur Zeit des letzten Keysors. Und wie dessen Herrschaft endete, ist ja allgemein bekannt.“
„Mag sein“, brummte der Dorfwart. „Aber der Keysor war böse und gierig, ihm war seine Macht zu Kopf gestiegen. Deshalb hat es damals nicht funktioniert.“
„So einfach ist es leider nicht“, sagte die alte Dame nachdenklich. „Selbst wenn er ein besonnener und gutherziger Mann gewesen wäre wie Sie, der von allen wertgeschätzt wird, wäre das Schicksal der Gemeinschaft aller Einwohner besiegelt gewesen.“
Der Dorfwart riss überrascht die Augen auf und fragte: „Wieso denn das?“
„Einen Grund kann ich Ihnen schnell nennen“, erwiderte die Frau. „Wenn zwei Bewohner sich streiten, kommen sie zu Ihnen und lassen den Zwist schlichten. Was aber würde geschehen, wenn nach Ihrem Rechtspruch einer der Kontrahenten mit der Entscheidung unzufrieden ist und weiterhin gegen seinen Gegner oder gar gegen Sie vorgeht?“
„Das gab es schon“, entgegnete der Dorfwart. „Er musste das Dorf sofort verlassen.“
„Und was würde geschehen, wenn er sich nachhaltig geweigert hätte zu gehen, zum Beispiel, weil er noch viele Münzen besaß, die außerhalb des Dorfes ja keinen Gegenwert haben, oder weil seine Familie oder Freunde hier leben?“
Nun schwieg der Dorfwart. So etwas war noch nicht geschehen. Die weißhaarige Frau aber fuhr fort: „Sie hätten ihn gewaltsam vertreiben, ihn anders bestrafen oder sich seiner Rechtsauffassung beugen müssen, worunter Ihre Autorität gelitten hätte.“ Als der Dorfwart auch weiterhin nichts sagte, ergänzte die alte Dame: „Das ist aber noch nicht alles. Sie nehmen doch regelmäßig eine bestimmte Menge an Münzen von den Bewohnern Ihres Dorfes, um dafür etwas kaufen zu können, nicht wahr?“
„Richtig“, sagte der Dorfwart.
„Was tun Sie, wenn nicht genug Münzen im Umlauf sind, um alle Geschäfte – zum Beispiel Ihre – abwickeln zu können?“
„Ich gehe zum Metallschaffer, der aus einer edlen Mischung neue Rohlinge formt. Diese bekommen dann meinen Prägestempel. Somit garantiere ich die Echtheit und Werthaltigkeit der Münzen.“
„Sie erschaffen also gültige Münzen kraft Ihres Amtes.“
„Genau. Und was soll daran jetzt falsch oder schlimm sein?“ Die Runzeln im Gesicht des Dorfwarts wurden tiefer.
„Wie kommen diese Münzen denn dann in den Umlauf?“
„Nun, ich gebe sie den Leuten für die Waren, die sie für mich herstellen.“
„Ganz recht. Denn wenn Sie sie verschenken würden, würde ja niemand eine Gegenleistung dafür erbringen müssen. Und wofür man nichts tun muss, das kann keinen besonderen Wert in einer Wirtschaft haben.“
„Stimmt.“
„Interessanterweise haben Sie aber für die geprägten Münzen nichts getan – außer ihre Herstellung anzuweisen.“
Dem Dorfwart wurde allmählich etwas mulmig. Wer war diese merkwürdige Besucherin und was wollte sie ihm eigentlich sagen? „Nun ja, schließlich bin ich der Dorfwart, oder? Irgendjemand muss es geben, der echte Münzen herstellt und für ihren Wert geradesteht, nicht wahr?“
„Gut, dann fasse ich mal zusammen: Ihr Dorf funktioniert zurzeit, weil es ein umlauffähiges Zahlungsmittel – Ihre Münzen – und einen Streitschlichter hat. Sie nehmen die zugehörigen Aufgaben wahr und lassen sich dafür von den Bewohnern bezahlen. Diese können aber nur an Münzen kommen, wenn sie dafür arbeiten. Faktisch zwingen die gegebenen Umstände die Menschen dazu, für Sie zu arbeiten – ganz ohne dass Sie es böse meinen oder machtgierig sind.“
Dem Dorfwart war bereits ganz schwindlig. Aber die alte Dame war immer noch nicht am Ende angelangt. „Jede neu geschaffene Münze steht für Arbeit, die von den Dorfbewohnern noch nicht geleistet wurde. Sie drückt eine abzutragende Schuld aus. Ihre Münzen sind in Wirklichkeit Schuldscheine. Wenn Sie nun Münzen herstellen und damit etwas kaufen, bezahlen Sie die Menschen mit dem Anspruch auf ihre eigene zukünftige Arbeit. Sie bringen sie dazu, Schulden bei sich selbst zu machen. Verquer, nicht wahr?“
Nun reichte es dem Dorfwart. Er sprang auf und sah sein Gegenüber halb zornig, halb entsetzt an. Dann entfuhr es seinem Mund: „Wer zum Dioblas sind Sie? Und woher wissen Sie um solche Dinge?“
Die Mundwinkel der alten Frau zuckten kurz, bevor sie antwortete: „Sagen wir einfach, ich bin die letzte Nachfahrin der Keysorischen Ministerin für Wirtschaft und Recht. Und wenn Sie weiter zuhören möchten, kann ich Ihnen auch das Ende der Geschichte erzählen.“ Nachdem der Dorfwart sich zitternd wieder gesetzt hatte, fuhr sie fort: „Es würde zu weit führen, Ihnen die Umstände detailliert nahezulegen. Nur so viel sollten Sie wissen: Jede Wirtschaft, die auf diesen Prinzipien aufbaut, muss zusammenbrechen. Wenn neue Schulden mit alten Schulden bezahlt werden, führt dies zu einer Spirale immer größeren Drucks, die nicht aufgehalten werden kann. Zum Schluss kann niemand mehr für die ausufernden Schulden geradestehen und alle verlieren alles, worauf sie sich verlassen haben. So ist es auch am Ende der Keysorenzeit geschehen.“
Der Dorfwart war in seinem Stuhl zusammengesunken und ziemlich blass im Gesicht. Es dauerte eine lange Zeit, bis er sich wieder berappelt hatte und dann die Dame fragte: „Und … was können wir tun, damit dies bei uns nicht wieder so geschieht?“
„Ihr könnt es nur anders geschehen lassen, wenn ihr zum Anfang zurückkehrt. In dem Moment, wo der erste Streit kommt, der eine höhergestellte Macht zwecks Schlichtung verlangt, beginnt es. Alles danach passiert unabhängig davon, ob der bezahlte Schlichter ein Keysor ist oder gewählt wird. Die einzige Möglichkeit, das Problem zu lösen, ist es, in einer Gemeinschaft zu leben, wie die Große Mutter es seit Dekazyklen vormacht: Arbeitet zusammen wie die Organe in einem Körper. Sie fragen nicht nach einer gegenseitigen Bezahlung und streiten sich auch nicht miteinander um das, was ihnen zusteht.“
Nun begann der Dorfwart, sich die Haare zu raufen. Er rief: „Aber Menschen sind so, wie sie sind! Wer soll so etwas bewirken und wie?“
„Wer bewirkt es in Ihrem Körper? Ganz sicher nicht Ihr Logikzentrum. Die Organe tun es von selbst, gewissermaßen instinktiv. Sie wissen, wozu sie da sind und was sie wann zu tun haben.“ Die alte Dame seufzte. „Ich bin mir sehr bewusst, dass man andere nicht ändern kann, nur sich selbst. Das wird genügen – oder eben nicht. Wenn die nötige Veränderung nämlich nicht eintritt, ist jeder Versuch einer Gemeinschaft von Menschen zum Scheitern verurteilt und das Zeitalter der Barbarei wird erst dann enden, wenn es uns nicht mehr gibt.“
Trauriges Schweigen schloss sich an. Nach etwa einer Mittelzeit jedoch wurde ein Hoffnungsschimmer in der Miene der weißhaarigen Frau sichtbar. „Das ist der Grund, weshalb ich meiner Vorfahrin nicht nacheifere, sondern einen anderen Weg gewählt habe. Ich vertraue darauf, dass es anders geschieht.“

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