„Ich werde vor ein Auto laufen. Die Menschen werden sich um mich scharen und mit weit aufgerissenen Augen auf meine Wunden starren…Es gibt nur zwei Menschen, die mich von der Sache mit dem Auto abhalten. Kevin und Hubert. Kevin wohnt um die Ecke, ist voll intelligent und Hubert wohnt im dritten Stock und ist voll dement.“ (Auszug aus dem Roman)
Patno: Puh Hasi, was ist das für ein fulminanter Start. Ich musste nach dem ersten Abschnitt erst einmal eine Pause einlegen. Was mag eine Fünfzehnjährige zu solchen Gedanken bewegen? Ich bin schockiert und berührt und ahne schon nach diesem Einstieg, dass uns der Roman mitnehmen wird. Wie hast Du in die Geschichte hineingefunden?
Hasi: Mir ging es wie Dir, ich habe mich auch gefragt, was so schlimm ist, dass sie in diesem Alter solche Gedanken hat. Zumal ich mir nach dem obigen Zitat noch ein ähnlich Fragen aufwerfendes aufgeschrieben habe: „Kevin kennt
mich. Hubert jedoch kennt meine Geheimnisse.“ (S. 7/8) Was für Geheimnisse mag eine 15jährige haben, die so schlimm sind? Erst hatte ich an sexuelle Übergriffe gedacht, aber davon kam bisher zum Glück nichts. Ob es "nur" die Schulprobleme sind? Zum Glück hat sie mit Hubert ja eine Aufgabe, die sie zumindest zusammen mit der Rücksicht auf ihre Mutter noch davon abhält. Aber was passiert, wenn Hubert mal nicht mehr da ist? Apropos - ich finde es schon ganz schön krass von Huberts Tochter, seine Pflege einfach auf eine billige polnische Arbeitskraft und ein Schulmädchen abzuwälzen. Hast Du Dich darüber auch so empört?
Patno: Ich glaube, es ist für Huberts Tochter schwer, den geistigen Verfall ihres Vaters mitzuerleben. Ehrlich gesagt, habe ich das gar nicht so als Abwälzen empfunden. Sie hätte ja den Vater auch in ein Heim geben können, aber so ist für sie die Situation erträglicher. Es ist bewundernswert, wie Linda mit Hubert und der Demenz umgeht. Mir geht das Herz auf. Oft muss ich über ihre Art schmunzeln. Ich finde, sie ein feines Händchen für Hubert. Andererseits scheint gerade Huberts fortschreitendes Vergessen in ihr etwas etwas zu bewegen, als könnte er ihre Seele heilen. Ganz ehrlich, hättest Du Dir vorstellen können, mit 15 Deine Zeit mit einem kranken alten Mann zu verbringen? Lindas einziger Freund ist Kevin und der ist genauso ein Einzelgänger.
Hasi: Naja, Du darfst nicht vergessen, dass eine polnische Pflegekraft günstiger ist als ein
Heim, auch wenn Hubert es natürlich zu Hause besser hat. Ich habe das bei beiden Eltern meiner Mutter erlebt, bei meinem Opa war ich damals auch erst 15 / 16, die psychische Belastung ist extrem.
Ja, Linda ist toll - in
der Schule ist sie ja keine Leuchte, aber bei Hubert scheint sie intuitiv zu
wissen, wie sie ihn erreichen kann und findet mit viel Feingefühl und
Kreativität Lösungen für Probleme. Darum fällt es
ihr wahrscheinlich auch so schwer zu begreifen, dass Huberts Zustand trotz aller Bemühungen
immer schlechter wird.
Aber ich mochte auch Ewa sehr, mit ihren Gebeten und Hausmittelchen und ihrer Rigorosität, wenn es erforderlich ist. Überleg mal, sie begleitet einen Patienten nach dem anderen beim Sterben, das wäre kein Job für mich.
Dafür konnte ich Kevin irgendwie nicht richtig fassen, er kam für mich immer nur am Rand vor. Hast Du Dir ein genaues Bild über ihn machen können, abseits seiner Angst vor der Umweltverschmutzung etc.?
Patno: Oh ja, Ewa fand ich klasse. Da musste ich an meine Kindheit denken. Es gab da in der Nachbarschaft auch eine Polin, zu der wir immer Kräuterhexe gesagt haben. Sie hat auch für alles Salben und Tinkturen gemixt von der Ringelblumensalbe über Spitzwegerich-Hustensaft bis hin zum Löwenzahnhonig. Ewa findet auch schnell Zugang zu Linda. Die beiden als Team fand ich großartig. Ich muss dir zustimmen, was Kevin betrifft. Ich kann ihn auch nicht richtig greifen und ihn mir bildlich vorstellen. Er ist eine Randfigur und dennoch werde ich das Gefühl nicht los, dass die Autorin genau diesen Eindruck beim Leser erzeugen wollte. Wie findest Du eigentlich Lindas Mutter und ihren Freund den Bestatter?
Hasi: Auch irgendwie blass, bzw. mochte ich sie nicht. Ihre Mutter scheint sich weder so richtig für Lindas schulische Leistungen zu interessieren noch dafür, was sie sonst so bewegt. Sie regt sich zwar auf, dass sich Linda um Hubert kümmert, macht aber auch nichts dagegen. Sie ist auf Männerjagd - und der Bestatter hat sich fangen lassen. Aber die fröhliche Frau, die er sich wünscht, ist sie ja nicht gerade ... Und macht er eigentlich auch mal was mit Linda? Ich kann mich nicht erinnern.
Patno: Genauso habe ich es auch empfunden. Lindas Mutter hat ihre eignen Sorgen und das mangelnde Interesse an ihrer Tochter fand ich irritierend. Ich habe lange überlegt, wie ich mich verhalten hätte, wenn meine Tochter in dieser Situation gewesen wäre. Ganz ehrlich, ich glaube, ich hätte diesen engen Kontakt zu Hubert wohl nicht zugelassen. Diese Krankheit ist schon schlimm, aber weißt Du, ich bin der festen Überzeugung, dass wir täglich lesen ist die beste Prophylaxe gegen Demenz/Alzheimer!
Hasi: Das haben doch sogar schon Studien belegt 😁. In diesem Sinne - lass uns weiterlesen und der Demenz entgegenwirken.
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