Dienstag, 26. Januar 2016

Die Töchter der Tuchvilla






  • Erscheinungsdatum Erstausgabe : 16.11.2015
  • Verlag : Blanvalet Taschenbuch Verlag
  • ISBN: 9783734100321
  • Flexibler Einband 704 Seiten 







1916: Der erste Weltkrieg ist in vollem Gange, doch die Bewohner der Tuchvilla hat hatten bisher Glück, denn Paul und seine Schwäger wurden noch nicht eingezogen. Doch gerade als Marie das erste Mal niederkommt, muss auch er an die Front.
Danach ändern sich die Zustände in der Villa und der Fabrik rasant. Benzin und Lebensmittel werden immer knapper, selbst in der Tuchvilla wird „kreative Kochkunst“ betrieben, aber wenigstens haben sie noch genug zu Essen. Bald gibt es für die Fabrik keine Rohstoffe mehr, doch Johann Melzer, das Familienoberhaupt, kann sich lange nicht durchringen, Pauls Pläne umzusetzen und stattdessen Stoffe aus Papier zu weben. (Das es (bedruckte) Stoffe aus Papier gab, wusste ich bis dato nicht, finde es aber extrem spannend. Sie konnten nicht gewaschen werden (dann lösten sich auf), sondern wurden ausgebürstet.)
Zudem lässt sich Johann lange bitten, bis die Frauen unter Elisabeths Leitung endlich ein Lazarett in der Villa einrichten dürfen.
An dieser Stelle möchte ich auf das einzige Manko des Buches verweisen – den Klappentext. Denn Marie leitet die Tuchvilla erst ziemlich am Ende des Krieges / Buches und auch die erwähnte Kontroverse mit Ernst von Klippstein fällt in diese Zeit.

„Die Töchter der Tuchvilla“ ist eine von mir sehnsüchtig erhoffte Fortsetzung, die meine Erwartungen voll erfüllt hat.
Bereits der Einstig in das Buch ist sehr gut gelungen: die einzelnen Familienmitglieder werden durch Maries Niederkunft (wieder) vorgestellt und die Leser des ersten Bandes (Die Tuchvilla) erfahren, was in der Zwischenzeit geschehen ist. Ich war sofort in dem Buch versunken und habe, sehr zum Leidwesen meines Hundes, meine Umgebung kaum noch wahrgenommen.

Die Melzer-Frauen sind sehr verschiedene Persönlichkeiten, die im Krieg förmlich über sich hinaus wachsen und sich emanzipieren.
Marie hat das Talent und Verständnis ihres Vaters für die Konstruktion von Maschinen geerbt, braucht aber lange, bis ihr Schwiegervater ihr zugesteht, dieses auch im Sinne der Fabrik zu nutzen. Auf leise, zurückhaltende Art schafft sie es langsam, sich bei ihm durchzusetzen. Ihre Ehe mit Paul ist extrem liebevoll und harmonisch. Sie schreiben sich während des Krieges hinreisende Liebesbriefe.
Elisabeth hat mit Klaus von Hagemann nicht unbedingt einen Glücksgriff gemacht. Ihre Schwiegereltern sind extrem aufdringlich und nutzen sie schamlos aus. Auch ihr Mann fordert in seinen Briefen von der Front immer nur Geld, zu lieben scheint er sie nicht. Außerdem wird sie leider nicht schwanger und neidet dieses Glück Marie und Kitty sehr. Aber sie ist ruhig und besonnen genug, um sich mit der Situation abzufinden und stattdessen alle ihre Kraft in das Lazarett und das Waisenhaus zu stecken. Trotzdem steht sie irgendwann vor einer schwierigen Entscheidung.
Kitty ist in ihrer Ehe eigentlich glücklich und endlich angekommen. Doch da meldet sich Gerard Duchamps, ihre erste große Liebe, wieder bei ihr und sie muss eine Wahl treffen. So richtig gefestigt ist ihre Persönlichkeit immer noch nicht. Kitty wirkt auf mich manisch: einerseits völlig überdreht und im nächsten Augenblick depressiv. Sie verarbeitet das Kriegstrauma auf ihre eigene Art und beginnt wieder zu malen. Ihre künstlerische Begabung hilft ihr letzten Endes sich auszudrücken und auch ausgeglichener zu werden.

Der Leser erlebt den Krieg aus sehr vielen verschiedenen Perspektiven. Da sind einerseits die Frauen in der Tuchvilla inkl. der weiblichen Dienstboten, die den Krieg nur aus den Briefen ihrer Männer oder durch die zu versorgenden Verletzten erleben. Schnell wird klar, dass alle völlig falsche Vorstellungen davon hatten.
Besonders erschreckend fand ich den Bericht, dass es auch an der Front kaum zu Essen, aber immer genügend Alkohol gab, damit die Männer (im Suff) ja durchhalten. Denn auch sie haben Angst, versuchen z.B. wie Humbert, der ehemalige Hausdiener der Melzers, zu fliehen und würden sich lieber erschießen lassen, als an die Front zurückkehren zu müssen.
Auch die Arbeiterinnen der Fabrik sind unmittelbar vom Krieg betroffen. Bald gibt es keinen Lohn mehr, später keine Arbeit. Ihre Streiks ändern die Situation nicht. Zuerst verkaufen die Frauen ihre Haare, später ihren Körper um etwas zu verdienen. Doch das wenige Geld reicht kaum zum Überleben, Kinder und Alte verhungern.

Man merkt beim Lesen, wie die Menschen trotz aller (Standes-)Unterschiede irgendwie zusammen halten müssen. Sie besinnen sich auf die Stärken der Einzelnen, von denen letzten Endes alle profitieren. Denn eines haben sie gemeinsam: die Sorge um den Ausgang des Krieges und den Verbleib ihrer Angehörigen. Wenn die Post wieder mal für Wochen ausbleibt und die Ungewissheit an den Nerven zerrt, der Park der Villa in einen Gemüsegarten verwandelt wird, weil es nichts mehr zu kaufen gibt, oder die Kinder der Melzers und der Dienstboten zusammen erzogen werden. Ich finde es sehr gut, wie dieses Zusammengehörigkeitsgefühl im Buch transportiert wurde.

Hoffentlich kommt bald der nächste Band, ich will doch wissen, ob Marie und Paul die Fabrik retten können und was aus Klippstein wird. Gelingt Kitty der Durchbruch als Künstlerin und geht das Arrangement in Pommern auf???

Keine Kommentare: