- Erscheinungsdatum Erstausgabe : 11.08.2016
- Verlag : Kiepenheuer & Witsch
- ISBN: 9783462048759
- Fester Einband 240 Seiten
- Genre: Roman
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Die
verschiedenen Seiten der Wahrheit
Johannas Vater verschwand am 4.10.1989, kurz vor der Wende, da war sie 2. Sie ist 19, als er sich plötzlich bei ihr meldet. Für sie ist er nicht Papa oder Vater, sondern Jens - er war ja nie da, aber sie hat ihn auch nicht vermisst. „Er ist wie der geflügelte Tiger auf der Landkarte, ein Fabelwesen aber trotzdem irgendwie da.“
Natürlich hat sie sich so ihre Gedanken gemacht, was damals
passiert ist. Ist er wirklich in den Westen abgehauen, wie ihre Mutter erzählt?
Oder wurde er gar bei einem Fluchtversuch erwischt und verhaftet? Aber warum
hat er sich nie gemeldet? Das wird plötzlich die zentrale Frage in Johannas
Leben ...
Dabei ist dieses auch so schon aufregend genug. Sie macht
gerade eine Ausbildung zur Straßenbahnfahrerin in Berlin – wo auch ihr Vater
wohnt, mit Blick auf einen Mauerrest, soviel hat er ihr am Telefon erzählt. Johanna
könnte ihn also jederzeit treffen, ohne ihn zu (er)kennen.
Auch Johannas Beziehung zu ihrer Mutter ist heikel, beide
wollen jeweils das Leben der anderen ändern, aber nicht ihr eigenes. Sie reden
nicht wirklich miteinander und bei Fragen bekommt Johanna von ihr Ratgeber oder
Bücher, nie einen Rat. Wobei, das stimmt nicht ganz, einen gibt sie ihr doch: „Und
vielleicht hörst du mal auf, nach hinten zu schauen, und schaust stattdessen
ein bisschen nach vorne.“
Zudem hat Johanna eine Affäre mit Karl, einem Kollegen. Auch
er ist vaterlos, das verbindet sie seines Erachtens. Karl weiß, was er im Leben
will – reisen, so viel und so weit wie möglich, eine Heimat suchen. Johanna sieht
das anders: „Vielleicht muss man, um sich zu Hause zu fühlen, einfach lange genug
an einem Ort bleiben ...“
Das Buch ist wie „Nach-Hause-Kommen“ – es fühlt sich
vertraut an und bereitet doch Herzklopfen. Ich kenne Berlin, mein Bruder wohnt
mitten auf dem ehemaligen Grenzstreifen, im Hof ist ein Gedenkstein. Manchmal
reden wir darüber und es ist immer noch unwirklich.
Den Oberuckersee und die Umgebung, wo Johann aufgewachsen
ist, kenne ich ebenfalls, mein Mann hat lange in Prenzlau gelebt.
Jens ist ein typischer DDR-Name, „Sonnenallee“ mein
Lieblingsfilm und die erwähnte DDR-Musik kann ich sofort mitsummen.
Die Geschichte ruft bei mir eine echte Gänsehaut hervor! Und
sie macht nachdenklich, wirkt stellenweise surreal, wirft Fragen auf:
Steht die Straßenbahn für Johannas Ziellosigkeit im Umgang
mit Jens und ihrer Suche nach festen Strukturen im Leben?
Die immer wiederkehrende Badewanne bzw. blaue Zinkwanne: Steht
sie für das Abwaschen von etwas? Ärger, Wut, Einsamkeit?! Die Geschichte geht
viel tiefer, als es auf den ersten Blick scheint.
Als ich die „Familie der geflügelten Tiger“ zu Ende gelesen
hatte, habe ich mich erst mal geärgert: es hat mir nicht gefallen, zu viele
Fragen sind offen geblieben. Aber je länger ich darüber nachgedacht habe, desto
logischer wurde es. Johanna ist endlich angekommen. Sie muss nicht alles wissen:
„In
einer Familie gibt es keine Wahrheit, es gibt nur Geschichten.“
Manchmal muss man einfach nach vorn schauen und mit der
Vergangenheit abschließen ...
Der Roman ist angenehm unauffällig und zurückhaltend,
(be)wertet nicht, will nicht überzeugen. Er ist leise, aber nicht anschmiegsam,
nichts für zwischendurch sondern regt zur Reflexion an. Durch ihn hab ich
wieder an meine Kindheit und Jugend (in der DDR) gedacht, mich erinnert. Es hat
Spaß gemacht zu überlegen, wie wir eigentlich zu dem geworden sind, was wir
jetzt sind.
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