Ein gelungenes Debüt, das zum Nachdenken anregt
von Frédéric Zwicker
Gebundene Ausgabe: 160 Seiten
Verlag: Verlag Nagel & Kimche AG
ISBN-13: 978-3312009992
Genre: Roman
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Johannes Kehr hat inzwischen ein hohes Alter erreicht und
geht mit 91 Jahren freiwillig in ein Altersheim. Zum einen möchte er niemandem,
besonders nicht seiner Enkelin, zu Last fallen, zum anderen hofft er, dass er
dort seine Ruhe haben wird. Aus diesem Grund täuscht er auch eine Demenz vor.
Auf dieser Weise braucht er sich um nichts zu kümmern, und wenn ihm irgendetwas
nicht gefällt, dann hat er das leider vergessen.
Er nutzt seine vorgetäuschte Demenz zum Beispiel dafür, sich
auch mal einen zusätzlichen Nachtisch zu stibitzen oder er nimmt ganz aus
Versehen die Gehhilfe einer anderen Bewohnerin mit – wenn diese dann den
anderen eine Weile nicht auf die Nerven gehen kann, ist das doch nicht so
schlimm, oder?
Doch mit den Wochen wird es immer schwieriger den Schein zu
wahren und als dann auch noch seine Jugendliebe Annemarie ins Heim kommt, fällt
es ihm besonders schwer nicht mit ihr in alten Erinnerungen zu schwelgen.
Wie lange kann er seine Mitmenschen täuschen? Oder täuscht
er am Ende sich selber?
Frédéric Zwicker greift in seinem Debütroman ein sensibles
und auch aktuelles Thema auf. Wie geht es den Menschen in den Pflege- und
Altersheimen? Was bestimmt ihr Leben und inwieweit können die Pflegekräfte auf
den einzelnen eingehen? In
einer Zeit, in der viele Menschen pflegebedürftig sind und oft händeringend
nach genügend Personal gesucht wird, trifft der Autor dieses feinfühlig
erzählten Buches den richtigen Ton und schafft es, dem Leser ganz unauffällig
vielerlei Denkanstöße zu geben.
Der Alltag im Pflegeheim wird authentisch beschrieben, mit
einem ebenso genauen Blick wie ihn auch die Figur von Herrn Kehr hat: es geht
um die Pflegekräfte, die nicht auf alles eingehen können und zum Teil auch
nicht wollen, die Bewohner, die sich oft in hohem Alter noch einmal ganz
umstellen müssen und in Ansätzen auch um die Familien, die einen Angehörigen im
Heim besuchen. Die Erzählweise und vor allem die Worte, die der Autor Herrn
Kehr in den Mund legt, sind teils zynisch und erscheinen in manchen Passagen
fast menschenverachtend, doch für mich sind sie das keinesfalls. Frédéric
Zwicker fängt meines Erachtens nach zwar teils schonungslos, doch niemals
abwertend, die Realität in einem Pflegeheim ein. Viele Aspekte lassen sich
einfach nicht Schönreden und man sollte es auch nicht krampfhaft versuchen.
Das Buch dreht sich ausschließlich um Herrn Kehr. Die
Perspektive wechselt immer wieder zwischen seinen Gedanken und Erinnerungen,
aktuellen Situationen aus der Ich -Perspektive und Erzählungen aus Sicht eines
neutralen Erzählers, der sich aber auch immer auf Situationen mit Herrn Kehr
beschränkt. Die vielen kurzen Kapitel, manche nicht mal eine halbe Seite lang,
erzählen eine eindringliche Geschichte und werfen - jedes für sich - neue
Aspekte auf.
So entsteht ein Mosaik von Herrn Kehrs bewegtem Leben.
Sowohl die Vergangenheit als auch die
Gegenwart werden geschildert, jedoch
nicht in chronologischer Reihenfolge. Gerade seine Gedanken springen hin und
her auch seine Beweggründe ins Heim zu gehen werden erst nach und nach
deutlicher. Seine Enkelin Sophie ist für ihn der wichtigste Mensch und wie er
sagt, erzählt er seine Geschichte für sie.
Neben seiner Familie und einigen anderen für ihn wichtigen Personen,
gibt es auch viele Heimbewohner, die der Leser nach und nach kennenlernt. Sei
es die eher unbeliebte und zickige Frau Tüsser, der schizophrene Herr Konrad
oder auch Frau Hülster, die stets die eine, gleiche Geschichte erzählt. Alle
haben ihre Eigenheiten, sind beliebt, schrullig, einsam oder überfordert. Vor
allem der demente Herr Müller hat mich sehr berührt. Immer wieder steht er auf
dem Flur, doch niemand nennt ihm die Zahlenkombination für die Stationstür und
so steht er regelmäßig dort und versucht vergeblich hinauszukommen - bis ihn
eine Pflegekraft wieder zurückbringt. Auch das Schicksal von Frau Fassbinder
hat mich betroffen gemacht und wirft die Frage auf, ob es eigentlich eine
Alternative zu den üblichen Pflegeheimen gibt, die nicht nur bezahlbar, sondern
auch praktikabel ist.
Mein Fazit: Durch die ständig wechselnde Perspektive war das
Buch anfangs eine Herausforderung für mich, doch es hat sich gelohnt, sich
darauf einzulassen. Ein sprachlich interessantes Buch, das sich auf eine
ungewöhnliche Weise dem Thema Alter und Demenz nähert und dass mich letztlich
voll und ganz überzeugen konnte. Ein gelungenes Debüt, das gut unterhält und
seine Leser zum Nachdenken animiert.
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