Paul M. Belt
Das erste Dorf
Vor langer Zeit taten sich im Nian der Neuzeit
Menschen in einer Siedlung zusammen, um gemeinsam zu leben. Der eine konnte
eben besser Äcker bewirtschaften, der andere Vieh halten, der dritte war ein
guter Holzschaffer und der vierte vermochte mit dem Webstuhl umzugehen wie kein
zweiter.
Dies funktionierte zunächst auch sehr gut, bis es zum
ersten Mal zu einem ernsthaften Streit kam. Heute weiß niemand mehr, ob es um
ein Tier ging, einen Anteil an Ackerland oder um die Qualität eines
Kleidungsstückes. Doch dies ist auch nicht wichtig, im Gegensatz zu den Folgen
davon. Denn auf der nächsten Versammlung der Gemeinschaft hatten sich die Streithähne
bereits einige Mittelzeiten lang einen Schlagabtausch geliefert, als jemand
laut rief: „So kann es nicht weitergehen! Jemand muss die Rolle eines
Schlichters bekommen, um eine Lösung für einen solchen Zwist zu finden!“
„Willst du etwa einen Herrscher einsetzen?“, warf ein
anderer ein. „Das ist nicht meine Vorstellung vom Leben, mich jemandem
unterzuordnen, der womöglich sein Leben lang entscheidet, was Recht ist und was
nicht! Das hat früher schon nicht funktioniert.“
„So soll es auch nicht sein. Wir werden in jedem
Zyklus einen neuen Schlichter wählen“, entgegnete der erste.
Die Mitglieder der Gemeinschaft nickten. Sie berieten
sich und setzten schließlich einen kräftigen und durchsetzungsfähigen Mann in
das Amt ein. Fortan wurde dieser bei Zwistigkeiten um Schlichtung gebeten.
Nicht selten musste er entscheiden, wer der rechtmäßige Eigentümer einer Sache
war. Einige Menschen des Dorfs kratzten sich am Kopf. „Rechtmäßiges Eigentum“ –
über so einen Begriff hatten sie sich vorher noch nie Gedanken machen müssen.
In dem Maße, wie die Dorfgemeinschaft größer wurde,
vermehrten sich auch die Aufgaben des Schlichters, der mittlerweile der
Einfachheit halber als „Dorfwart“ bezeichnet wurde. Und das Dorf wuchs schnell,
die Vorteile der Arbeitsteilung waren einfach zu groß, um sie als
Außenstehender ignorieren zu können. Der Dorfwart hatte nun keine Zeit mehr,
etwas anderes zu tun als Recht zu sprechen und für Ordnung zu sorgen.
Selbstverständlich musste er aber dennoch von etwas leben, also nahm er von
allen Mitgliedern der Gemeinschaft einen kleinen Obolus an den von ihnen
hergestellten Dingen.
Schon bald entdeckten die Bewohner, dass eine
Aufrechnung von Leistungen gegen Güter oder ein bloßes Tauschen von Dingen
ziemlich unpraktisch war, wenn die entsprechenden Waren schnell verdarben. Auf
gemeinsamen Beschluss hin wurden „besondere“ Güter eingeführt, die sehr
langlebig waren und daher oft von einem zum anderen weitergegeben werden
konnten. Das Schöne an diesen sogenannten „Münzen“ war, dass man die in Eigenarbeit
hergestellten Waren gegen sie eintauschen konnte und somit den Wert der eigenen
Arbeit über die Zeit hinweg bewahren konnte. Ein Tausch, an dem Münzen
beteiligt waren, wurde von diesem Zeitpunkt an als „Kauf“ oder „Verkauf“
bezeichnet. Der Vorteil gegenüber dem bisherigen Tauschen war so groß, dass
bald alle Geschäfte mit Hilfe von Münzen abgewickelt wurden. Auch dem Dorfwart
war dies sehr recht, konnte sich doch auch er seine Dienstleistung nun in
dauerhaften Werten bezahlen lassen. Nur wenn es Schwierigkeiten gab,
beispielsweise dass jemand Ware ohne Bezahlung in Anspruch nehmen wollte oder
selbst Münzen aus weniger gutem Material herstellte, die ein anderer dann nicht
annehmen wollte, war jedes Mal seine Schlichtung erforderlich. Es dauerte nicht
lange, da war klar: Dem Dorfwart musste die Gewalt zugesprochen werden, zu
entscheiden, welche Münze einen rechtmäßigen Gegenwert darstellte und welche
nicht. Der Urkundler des Dorfes notierte an diesem Tag: „Nun obliegt es dem
Dorfwart, die Münzen kraft seines Amtes zu besichern.“
Eines Tages nun kam eine alte Frau mit schlohweißem
Haar und einem langen Umhang in das Dorf. Sie setzte sich auf einen Stein am
zentralen Marktplatz und beobachtete eine sehr lange Weile das dortige Treiben.
Nachdem sie begriffen hatte, wie das Dorf funktionierte, stand sie auf und
begab sich zum Haus des Dorfwarts. Dieser ließ sie freundlich ein, bot ihr
einen Stuhl an und fragte nach ihrem Begehr. Kaum hatte die alte Dame Platz
genommen, hob sie auch schon an zu sprechen: „Ihr wisst, wohin die Reise dieser
Dorfgemeinschaft geht, oder?“
Der Dorfwart runzelte die Stirn und erwiderte: „Das
klingt in meinen Ohren, als ob Sie sich Sorgen machten. Weshalb denn, dem Dorf
geht es doch gut?“
„Das tut es tatsächlich – noch“, meinte die Frau mit
bekümmertem Gesichtsausdruck. „Genauso hat es damals auch begonnen, zur Zeit
des letzten Keysors. Und wie dessen Herrschaft endete, ist ja allgemein
bekannt.“
„Mag sein“, brummte der Dorfwart. „Aber der Keysor war
böse und gierig, ihm war seine Macht zu Kopf gestiegen. Deshalb hat es damals
nicht funktioniert.“
„So einfach ist es leider nicht“, sagte die alte Dame
nachdenklich. „Selbst wenn er ein besonnener und gutherziger Mann gewesen wäre
wie Sie, der von allen wertgeschätzt wird, wäre das Schicksal der Gemeinschaft
aller Einwohner besiegelt gewesen.“
Der Dorfwart riss überrascht die Augen auf und fragte:
„Wieso denn das?“
„Einen Grund kann ich Ihnen schnell nennen“, erwiderte
die Frau. „Wenn zwei Bewohner sich streiten, kommen sie zu Ihnen und lassen den
Zwist schlichten. Was aber würde geschehen, wenn nach Ihrem Rechtspruch einer
der Kontrahenten mit der Entscheidung unzufrieden ist und weiterhin gegen
seinen Gegner oder gar gegen Sie vorgeht?“
„Das gab es schon“, entgegnete der Dorfwart. „Er
musste das Dorf sofort verlassen.“
„Und was würde geschehen, wenn er sich nachhaltig
geweigert hätte zu gehen, zum Beispiel, weil er noch viele Münzen besaß, die
außerhalb des Dorfes ja keinen Gegenwert haben, oder weil seine Familie oder
Freunde hier leben?“
Nun schwieg der Dorfwart. So etwas war noch nicht
geschehen. Die weißhaarige Frau aber fuhr fort: „Sie hätten ihn gewaltsam
vertreiben, ihn anders bestrafen oder sich seiner Rechtsauffassung beugen
müssen, worunter Ihre Autorität gelitten hätte.“ Als der Dorfwart auch
weiterhin nichts sagte, ergänzte die alte Dame: „Das ist aber noch nicht alles.
Sie nehmen doch regelmäßig eine bestimmte Menge an Münzen von den Bewohnern
Ihres Dorfes, um dafür etwas kaufen zu können, nicht wahr?“
„Richtig“, sagte der Dorfwart.
„Was tun Sie, wenn nicht genug Münzen im Umlauf sind,
um alle Geschäfte – zum Beispiel Ihre – abwickeln zu können?“
„Ich gehe zum Metallschaffer, der aus einer edlen
Mischung neue Rohlinge formt. Diese bekommen dann meinen Prägestempel. Somit
garantiere ich die Echtheit und Werthaltigkeit der Münzen.“
„Sie erschaffen also gültige Münzen kraft Ihres
Amtes.“
„Genau. Und was soll daran jetzt falsch oder schlimm
sein?“ Die Runzeln im Gesicht des Dorfwarts wurden tiefer.
„Wie kommen diese Münzen denn dann in den Umlauf?“
„Nun, ich gebe sie den Leuten für die Waren, die sie
für mich herstellen.“
„Ganz recht. Denn wenn Sie sie verschenken würden,
würde ja niemand eine Gegenleistung dafür erbringen müssen. Und wofür man
nichts tun muss, das kann keinen besonderen Wert in einer Wirtschaft haben.“
„Stimmt.“
„Interessanterweise haben Sie aber für die geprägten
Münzen nichts getan – außer ihre Herstellung anzuweisen.“
Dem Dorfwart wurde allmählich etwas mulmig. Wer war
diese merkwürdige Besucherin und was wollte sie ihm eigentlich sagen? „Nun ja,
schließlich bin ich der Dorfwart, oder? Irgendjemand muss es geben, der echte
Münzen herstellt und für ihren Wert geradesteht, nicht wahr?“
„Gut, dann fasse ich mal zusammen: Ihr Dorf
funktioniert zurzeit, weil es ein umlauffähiges Zahlungsmittel – Ihre Münzen –
und einen Streitschlichter hat. Sie nehmen die zugehörigen Aufgaben wahr und
lassen sich dafür von den Bewohnern bezahlen. Diese können aber nur an Münzen
kommen, wenn sie dafür arbeiten. Faktisch zwingen die gegebenen Umstände die
Menschen dazu, für Sie zu arbeiten – ganz ohne dass Sie es böse meinen oder
machtgierig sind.“
Dem Dorfwart war bereits ganz schwindlig. Aber die
alte Dame war immer noch nicht am Ende angelangt. „Jede neu geschaffene Münze
steht für Arbeit, die von den Dorfbewohnern noch nicht geleistet wurde. Sie
drückt eine abzutragende Schuld aus. Ihre Münzen sind in Wirklichkeit
Schuldscheine. Wenn Sie nun Münzen herstellen und damit etwas kaufen, bezahlen
Sie die Menschen mit dem Anspruch auf ihre eigene zukünftige Arbeit. Sie
bringen sie dazu, Schulden bei sich selbst zu machen. Verquer, nicht wahr?“
Nun reichte es dem Dorfwart. Er sprang auf und sah
sein Gegenüber halb zornig, halb entsetzt an. Dann entfuhr es seinem Mund: „Wer
zum Dioblas sind Sie? Und woher wissen Sie um solche Dinge?“
Die Mundwinkel der alten Frau zuckten kurz, bevor sie
antwortete: „Sagen wir einfach, ich bin die letzte Nachfahrin der Keysorischen
Ministerin für Wirtschaft und Recht. Und wenn Sie weiter zuhören möchten, kann
ich Ihnen auch das Ende der Geschichte erzählen.“ Nachdem der Dorfwart sich
zitternd wieder gesetzt hatte, fuhr sie fort: „Es würde zu weit führen, Ihnen
die Umstände detailliert nahezulegen. Nur so viel sollten Sie wissen: Jede
Wirtschaft, die auf diesen Prinzipien aufbaut, muss zusammenbrechen. Wenn neue
Schulden mit alten Schulden bezahlt werden, führt dies zu einer Spirale immer
größeren Drucks, die nicht aufgehalten werden kann. Zum Schluss kann niemand
mehr für die ausufernden Schulden geradestehen und alle verlieren alles, worauf
sie sich verlassen haben. So ist es auch am Ende der Keysorenzeit geschehen.“
Der Dorfwart war in seinem Stuhl zusammengesunken und
ziemlich blass im Gesicht. Es dauerte eine lange Zeit, bis er sich wieder
berappelt hatte und dann die Dame fragte: „Und … was können wir tun, damit dies
bei uns nicht wieder so geschieht?“
„Ihr könnt es nur anders geschehen lassen, wenn ihr
zum Anfang zurückkehrt. In dem Moment, wo der erste Streit kommt, der eine
höhergestellte Macht zwecks Schlichtung verlangt, beginnt es. Alles danach
passiert unabhängig davon, ob der bezahlte Schlichter ein Keysor ist oder
gewählt wird. Die einzige Möglichkeit, das Problem zu lösen, ist es, in einer
Gemeinschaft zu leben, wie die Große Mutter es seit Dekazyklen vormacht:
Arbeitet zusammen wie die Organe in einem Körper. Sie fragen nicht nach einer
gegenseitigen Bezahlung und streiten sich auch nicht miteinander um das, was
ihnen zusteht.“
Nun begann der Dorfwart, sich die Haare zu raufen. Er
rief: „Aber Menschen sind so, wie sie sind! Wer soll so etwas bewirken und
wie?“
„Wer bewirkt es in Ihrem Körper? Ganz sicher nicht Ihr
Logikzentrum. Die Organe tun es von selbst, gewissermaßen instinktiv. Sie
wissen, wozu sie da sind und was sie wann zu tun haben.“ Die alte Dame seufzte.
„Ich bin mir sehr bewusst, dass man andere nicht ändern kann, nur sich selbst.
Das wird genügen – oder eben nicht. Wenn die nötige Veränderung nämlich nicht
eintritt, ist jeder Versuch einer Gemeinschaft von Menschen zum Scheitern
verurteilt und das Zeitalter der Barbarei wird erst dann enden, wenn es uns
nicht mehr gibt.“
Trauriges Schweigen schloss sich an. Nach etwa einer
Mittelzeit jedoch wurde ein Hoffnungsschimmer in der Miene der weißhaarigen
Frau sichtbar. „Das ist der Grund, weshalb ich meiner Vorfahrin nicht
nacheifere, sondern einen anderen Weg gewählt habe. Ich vertraue darauf, dass
es anders geschieht.“
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