Paul M.Belt
Der weise Nen und der
reitende Bote
Einst trug es sich zu, dass der weise Nen
zu Hanveria eine Rast einlegte. Von seiner langen Reise durch das Mittelland
erschöpft, verzichtete er dennoch auf eine Herberge, die er sich durchaus hätte
leisten können. Bescheiden wie er war, zog er es stattdessen vor, einen Bürger
der Stadt zu bitten, in einem riesigen Fass Wohnung nehmen zu dürfen, welches
jener am Rande seines Grundstücks abgelegt hatte.
Nachdem er einige Tage dort verbracht,
sich von den Strapazen erholt und viele Gespräche mit vorbeiziehenden Krämern
und Schaffern aller Art geführt hatte, war ihm ein junger Rundeichenreiter
aufgefallen, der tagaus, tagein rastlos auf seinem Blatt über die Straßen
hinwegsauste und niemals lange an einem Ort verweilte. Augenscheinlich übte
dieser den Beruf eines Boten aus, denn fast immer hatte er eine Depesche oder
eine kleine Tasche dabei. Verwundert darüber, dass ein Mitglied dieses würdigen
Klans sich derart aufführte, beschloss Nen schließlich, sich zu erheben und ihn
anzusprechen.
Der Reiter sah von seinem bereits arg
mitgenommenen Eichenblatt herunter und landete widerwillig neben Nens Tonne.
„Was wünschest du, Fremder?“, fragte er mürrisch. „Ich habe wenig Zeit!“
„Just dies ist der Grund, weshalb ich dich
zu sprechen wünschte. Wie kommt es, dass ein ehrenwerter Reiter so durch die
Gegend hetzt und nicht einmal mehr die Zeit dafür findet, sein Blatt zu
erneuern?“
Seufzend erwiderte der Gefragte: „Meine
Aufgabe ist es nun einmal, Botschaften zu übermitteln. Und die jeweiligen
Absender und Empfänger haben es meist äußerst eilig dabei. Hierbei nun kommt
mir meine Fähigkeit des Blattreitens sehr zugute.“ Nervös blickte er auf seinen
Kronom und wollte offensichtlich so schnell wie möglich wieder von dannen
reiten.
Nen hingegen schien in Grübelei zu
verfallen. Die Ungeduld seines Gegenübers steigerte sich ins nahezu
Unermessliche, bevor sich plötzlich sein Gesichtsausdruck veränderte und er
hervorstieß: „Jetzt erkenne ich dich! Du bist der weise Nen, nicht wahr? Jetzt
sag nicht, du hast mir ebenfalls eine Botschaft zu übermitteln, die ich
weitertragen darf?“
Nach einer Denkpause blickte Nen dem
Reiter tief in die Augen und erwiderte: „Doch. Diese Botschaft ist allerdings
nicht für eine einzelne Person, sondern für jeden bestimmt, dessen Leben
dadurch geprägt ist, dass er jeden Tag aufs Neue unruhig und gehetzt sein
Dasein fristet und sich dabei offensichtlich unwohl fühlt, besonders jedoch für
Reiter. Bitte bestelle jedem, der es hören möchte: Nach einem erfolgreichen
Ritt muss man den Stiel loslassen um abzusteigen.“
(volkstümlich aus dem Mittelland)
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