Dienstag, 25. Juli 2023

Der letzte Sessellift


Buchdetails: 

Erscheinungsdatum: 26.04.2023

Herausgeber: Diogenes 

Buchlänge: gebundene Ausgabe 1088 Seiten 

ISBN: 9783257072228

Genre: Roman 

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Ein Marathonläufer braucht Ausdauer, Disziplin, einen starken Willen und ein gutes Training. Ähnlich verhält es sich mit dem Lesen von John Irvings Roman „Der letzte Sessellift“. 

Geübte Leser und Irving-Fans werden die 1088 Seiten vermutlich eher bewältigen. Ich habe bisher nur „Witwe für ein Jahr“ gelesen. Als Vielleser suche ich lesetechnisch gerne eine Herausforderung. 


Im Zentrum der Geschichte steht Adam Brewster, der gleichzeitig als Ich-Erzähler fungiert. 

1941 nimmt Adams Mutter Rachel an den nationalen Skimeisterschaften teil. Für eine Medaille reicht es nicht. Dafür kehrt sie schwanger in ihre Heimat Exeter in New Hampshire zurück. Ihr Sohn Adam wächst bei den Großeltern auf, da seine Mutter das halbe Jahr in Vermont als Skilehrerin tätig ist. Besonders zu seiner Großmutter Nana hat Adam ein inniges Verhältnis. Sie liest ihm schon als Elfjährigem „Mobi-Dick“ vor und legt damit wohl den Grundstein, für seine Karriere als Schriftsteller.

Adams Familie ist speziell. Am Anfang der Geschichte sorgt der demente Großvater für Tumulte. Cousine Nora tritt mit ihrer Lebensgefährtin Em in New York in einer lesbischen Bühnennummer in einem Comedyclub auf. Adams Mutter Rachel, die nur einen Meter achtundfünfzig groß ist, heiratet den kleinen Englischlehrer Elliot Barlow. Trotzdem lebt sie mit Molly zusammen. Elliot fühlt sich im Laufe der Handlung mehr und mehr als Frau und schwingt sich bei passender Gelegenheit in Frauenkleider. 

Adam gewährt tiefe Einblicke in sein Leben. Obwohl Rachel (auch Little Ray genannt) die meiste Zeit des Jahres unterwegs ist, vergöttert sie ihren Sohn. Er ist ihr „Ein und Alles“.  Wer aber ist Adams leiblicher Vater? Diese Frage beschäftigt den Jungen seit Kindertagen. Später reist er nach Aspen, an den Ort seiner Zeugung und begibt sich auf Spurensuche. 

Verfolgt man Irvings Lebensgeschichte, wird schnell klar, dass er autobiografische Erfahrungen in seiner Geschichte verarbeitet.

Auch Themen des gesellschaftlichen und politischen Lebens, wie z.B. die Aidskrise und Ronald Reagans ignoranter Umgang damit, dürfen in der Handlung nicht fehlen. 

Irving kennt keine Tabus. Eine Absurdität jagt die nächste. Da verwundet es niemanden, dass Adam Gespenster sieht, oft in Form des verstorbenen Großvaters, dem „Windelträger“. 

Beim Lesen fahren meine Emotionen Achterbahn. Besonders die detaillierten Beschreibungen von Adams ersten sexuellen Erfahrungen wirken auf mich abstoßend. Als hätte ich es nicht beim ersten Mal verstanden, kommt Irving im Laufe der Handlung immer wieder darauf zurück. In der zweiten Hälfte des Roman wird es noch konfuser. Hier gilt es viele Wiederholungen und Längen zu überbrücken. Besonders nervig empfinde ich die seitenweise Abhandlung von Adams Drehbüchern. Es geht vom Hundertsten ins Tausendste. 

Und während ich mich durch die Seiten  kämpfe, ist da plötzlich dieser tragische Moment, der mich in Sekundenschnelle packt und zum Heulen bringt. Es ist die Szene, die den Buchtitel erklärt. 

Am Ende bin ich ausgelaugt und froh, dass die Lektüre hinter mir liegt. Tatsächlich spuken Irvings Gespenster noch Tage später durch meinen Kopf und ich stelle fest, dass mich dieser begnadete Erzähler mit seiner Geschichte eben doch irgendwie abgeholt hat. 


„Der letzte Sessellift“ ist ein Leseerlebnis der besonderen Art, vielleicht der letzte große Roman des John Irving. Einzigartig und unvergessen, trotzdem mit Vorsicht zu genießen! 

Ein solches Werk in Sternen zu bewerten, fällt mir schwer. Es ist eine schräge und dennoch bewegende Geschichte. Sie hat mich nicht durchweg gefesselt und doch wird sie mir ewig in Erinnerung bleiben. Es ist eine aufregende Erfahrung, wie die Fahrt mit einem Sessellift. Man schwebt höher und höher und spürt dabei den Wind im Gesicht. 

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