Das Veilchenblatt
„Bemerkst du, was du tust?“ Die leise Stimme weckte die kleine Miya aus ihrem Tagtraum. Sie zerbröselte das handtellergroße Blütenblatt noch etwas mehr in ihrer rechten Hand, bevor sie sich der weißhaarigen Frau zuwandte und sagte: „Ich zerkrümele ein Veilchenblatt.“„Genau“, erwiderte die ältere Dame. „Und vorher hast du es abgepflückt. Wolltest du dies so tun?“
Das Mädchen wunderte sich. So eine Frage hatte sie sich noch nie
gestellt. Sie roch an ihrer Hand, die nun ein bisschen nach
Pflanzensaft, ein bisschen nach Nektar und Pollen duftete. „Ich habe es
einfach nur so gemacht, es ist hübsch“, meinte sie schließlich.
„Das ist in Ordnung“, erwiderte die Weißhaarige mit ihrer leicht rauen Stimme.
„Warum fragst du dann?“, wunderte sich die Kleine.
„Weil es auf die Energie ankommt, mit der man etwas tut. Wenn man einfach nur spielt und die Seele dabei fliegen lässt oder neugierig ist, hat das eine andere Auswirkung als wenn man es zum Beispiel aus Wut oder sonstwie unter Missachtung des Lebens tut.“
Miya sah immer noch verwirrt aus. So fuhr die ältere Dame fort: „Wenn du ein Blatt oder ein Blütenteil oder Knospe abreißt, kannst du das beispielsweise tun, um etwas über sie zu erfahren. Du kannst die Teile untersuchen oder einfach nur ihren Geruch genießen. In jedem Fall tust du es dann bewusst. Vielleicht kannst du sogar einen stillen Dank hinterherschicken. Wenn du aber Ärger im Herzen hast, greifst du womöglich gedankenlos um dich und reißt einfach an allem, was du zu fassen bekommst. Mit Sicherheit spürst du dann keine Dankbarkeit. Kannst du dir vorstellen, dass das einen Unterschied macht, selbst wenn die Pflanze keinen Schmerz empfindet wie wir?“
Nun lächelte das Mädchen. Das war ja klar wie das Wasser des Fluvon! So genau hatte sie sich das allerdings nicht überlegt. Und eine Frage hatte sie noch: „Wie ist das denn eigentlich, wenn die Schnitter Getreidehalme fällen? Ich meine, ein Blütenblatt tut der Pflanze vielleicht nichts, aber die Getreidepflanzen leben danach nicht mehr weiter!“
„So eine Pflanze ist etwas sehr Komplexes. Vielleicht hast du schon gelernt, dass sie aus vielen kleinen Bausteinen besteht, die alle zusammenwirken, damit sie entstehen und leben kann - so wie auch du und ich. Trotzdem kommt etwas sehr Einfaches dabei heraus: sie wächst, wir ernten und essen. So ist es überall in der Großen Mutter: alles, was einfach erscheint, ist ein Zusammenspiel vieler kleiner Bestandteile und Vorgänge. Wenn man etwas bewusst tut, empfindet man sich als Teil dieser Vorgänge. Man kann das Gleichgewicht zwar auch dann stören, es wird jedoch anschließend versuchen, sich wiederherzustellen, womöglich auf größerer Ebene. Dies wird dann gelingen, wenn alles mit Bedacht geschieht.“
„Du meinst, es ist in Ordnung, Pflanzen zu verarbeiten, weil wieder welche nachwachsen?“
„In diesem Zusammenhang ja. Achte einfach auf dein inneres Gefühl, dann spürst du die Verbindung. So wie du spürst und weißt, dass das Korn wächst, um dich zu ernähren, weiß das Korn dies auch. Wenn du bewusst handelst, wirst du auch darauf achten, kein Leid zu erzeugen, denn dann bliebe das Gleichgewicht gestört.“
Nachdenklich ging Miya weiter neben ihrer großen Freundin her und nahm sich vor, genau darauf zu achten, was sie gerade tat und warum.
Hier geht es zu der Geschichte "Mondfischer".
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen