Paul M. Belt
Der suchende Lekur
Einst trug es sich zu, dass ein
frischgebackener Lekur der Erlenreiter aus Borheim durchs Land zog, um sich dem
Studium des Wesens der Liebe zu widmen. In seiner Loge war nämlich die Frage
aufgetaucht, was Liebe im Sinne der Ideale des Reitertums bedeute, und es
konnte Monde lang keine zufriedenstellende Antwort gefunden werden. So war man
übereingekommen, einen Forscher abzustellen, um die Frage zu klären.
Der Lekur, ein junger und
fröhlicher, aber auch nachdenklicher Mann, bevorzugte es, am Ufer des Rhevons
entlangzureisen. Er hatte bereits das Bielfurter Land durchzogen und viele
Städte und Dörfer besucht, als er Hanveria erreichte. Diese große Stadt mit
ihrem Getümmel war nicht der Ort, an welchem er seine Studien fortsetzen
wollte, weshalb er sie in Richtung Osten wieder verließ. Am Stadtrand gesellte
sich ein schweigsamer Wanderer in einem alten, abgewetzten Gewand zu ihm. Ein,
zwei Langmaße legten sie wortlos zurück, bis der Wanderer ihn schließlich doch
ansprach: „Wohin des Wegs, edler Geselle?“
„Oh, ein besonderes Ziel habe
ich nicht. Ich widme mich dem Studium allumfassender Liebe“, erwiderte der
Lekur. „Es ist allerdings nicht nötig, mich ‚edel‘ zu nennen. Ich bin nur ein
einfacher Lekur der Erlenreiterloge zu Borheim.“
„So bist du ein edler Reiter“,
sprach der Wanderer. „Was jedoch redest du von Liebe? Ist denn nicht
offensichtlich, was mit diesem Begriffe gemeint ist?“
Daraufhin berichtete ihm der
Lekur von den Unstimmigkeiten in seiner Loge zu diesem Thema. Kaum hatte er
seine Rede beendet, lachte der Wanderer laut. „Nichts Einfacheres gibt es auf
der Welt als die Frage nach der Liebe! Sie bedeutet, dass man sich gegenseitig
hilft, stützt und einander von Herzen gern Wünsche erfüllt. Der Reiche dem
Armen, der Starke dem Schwachen, je nachdem, was derjenige zu geben imstande
ist.“
Nachdenklich hörte der Lekur
den Ausführungen des Wanderers zu, während er weiterhin unablässig einen Fuß
vor den anderen setzte. Nach einer Weile erreichten sie gemeinsam eine
Wegkreuzung, an der sich ein Gasthaus befand. „Mich dürstet“, sprach der
Wanderer mit rauer Kehle. „Wollen wir dort nicht einkehren? Mein Säckel ist
seit geraumer Zeit leer, und du könntest dein Studium ganz praktisch fortsetzen,
indem du das Deine mit mir teilst.“
Der Lekur ließ sich überzeugen
und nahm gemeinsam mit seinem Gegenüber an einem freien Tisch Platz. Eine
gewaltige Mahlzeit und viele kühle Getränke später hatte sich der Tag geneigt,
und der Wanderer schlug vor, an Ort und Stelle zu nächtigen. Dem Lekur war es
recht, und so setzten beide ihren Weg nach Osten erst am nächsten Tag fort.
Durch die Flecken Heldeshausen und Pajina führte sie ihr Weg, jedes einzelne
Mal übernahm der Lekur die Kosten für seine eigenen Speisen und gefüllten
Becher wie auch für die des Wanderers. Als die beiden am Abend jedoch die
Vororte von Bursiga erreichten und der Wanderer erneut vorschlug, in einem
Wirthaus zu speisen und zu nächtigen, runzelte der Lekur die Stirn und hob an
zu sprechen: „Bitte, sagtest du nicht, dass Liebe bedeute, sich gegenseitig zu
helfen? Mir dünkt es allerdings so, als ob die Unterstützung zurzeit sehr
einseitig flösse.“
„Stimmtest du nicht mit mir
überein, dass der Reiche dem Armen, der Starke dem Schwachen helfen solle?“,
erwiderte der Wanderer. „Ich sagte dir doch, mein Säckel ist bereits seit
langer Zeit leer.“
Schweigend betraten sie das
Gasthaus und blieben auch dort über Nacht. Am nächsten Morgen machten sie sich
beide in die Stadt auf. Auf dem dortigen zentralen Marktplatz meinte der
Wanderer auf einmal: „Sieh nur, die Pfannenkuchen und die gebratenen
Flussfische - und dort, sogar Süßspeisen haben sie hier! Meldet sich da nicht
dein Magen und verlangt nach dem, was ihm zusteht?“
„Doch“, entgegnete der Lekur
bitter. „Jedoch habe ich nun nicht mehr die Möglichkeit, unseren Hunger zu
stillen. Das Mahl und die Übernachtung im Wirtshaus haben mein Säckel nunmehr
genauso leer gemacht wie deins.“
„Nun, so scheint sich dein
Vorrat an Liebe erschöpft zu haben. Dann werde ich wie auch schon vorher mein
Dasein als Wanderer allein fristen. Gehab dich wohl“, sagte der Wanderer und
wandte sich zum Gehen.
„Das ist unerhört! So haben wir
nicht gewettet!“, ließ der Lekur laut seine Stimme erschallen. „Mir deucht es
nunmehr, als seist du bloß ein dahergelaufener Trugkerl!“ Doch der Wanderer
lachte nur ein raspelndes, hämisches Lachen und war kurz danach hinter der
nächsten Ecke verschwunden.
Tief betrübt stand der Lekur am
Rand des Marktplatzes und wusste nicht recht, was er denken sollte.
Enttäuschung, Wut, Verständnislosigkeit - alles schien sich in seinem Herzen zu
vermischen. War er nicht losgezogen, um Liebe zu verstehen? Wie Liebe jedoch
fühlte sich dies ganz und gar nicht an. So stand er viele Mittelzeiten lang
dort, als er auf einmal eine Hand auf seinem Arm spürte. Erschrocken fuhr er
herum und erblickte ein kleines altes Mütterchen, das ihm wortlos einen
Pfannenkuchen darbot. „Nun“, dachte er sich, „bevor ich hier noch zu
verschmachten drohe, werde ich lieber zugreifen.“ Gierig schlang er den Fladen
herunter und sah anschließend der alten Frau dankbar ins Gesicht. Bevor er
jedoch etwas sagen konnte, begann das Mütterchen zu sprechen und fragte:
„Meinst du, dass dies ein Akt der Liebe war?“
Der verwunderte Lekur antwortete:
„Sicher. Du hast mir in der Not geholfen. Dafür bin ich dir ehrlich dankbar.“
„Ich weiß“, entgegnete die
dünne Stimme der alten Frau. „Sonst hätte ich dir auch nichts gegeben. Von der
Liebe schwatzen und schwadronieren tun viele. Aber wer versteht sie schon?“
„Tust du es denn?“
Das Mütterchen bekam ein
Lächeln auf dem faltigen Gesicht. Sie sagte: „Nur so viel: Wärst du der
Wanderer, hätte ich dir nicht helfen können. Keine Gabe an ihn geschah aus
Liebe. Denn niemand von euch hat aus ihr heraus gehandelt, weder er noch du.“
„Ich?“ Der Lekur stutzte. „War
denn nicht alles, was ich gab, von Herzen getan?“
„Ja - und nein.“ Das Lächeln
der Frau wurde nun melancholisch. „Man kann Liebe, speziell Nächstenliebe, nur
verstehen, wenn man seinen Nächsten tatsächlich liebt. Du aber hast den
wichtigsten Nächsten bisher vergessen.“ Als der Lekur nur verwirrt
dreinblickte, fügte sie hinzu: „Ohne Selbstliebe ist Liebe nicht vollständig.
Niemandem ist geholfen, wenn sich eine Seite ausnutzen lässt, und sei es noch
so gut gemeint.“
Die Gesichtszüge des Lekurs
hellten sich auf. Das war es - nicht nur sein Hunger war gestillt, auch die
Antwort auf seine Frage hatte ihn gefunden! Nun konnte er sie sehen - den
Kräuterbusch am Marktrand, der das Wasser der Erde trank, den Vogel, der seine
Pollen fraß und sich in die Lüfte unter einen blauen Himmel erhob, von dem die
Sonne herunterschien und die Stadt mit ihrem wärmenden Licht übergoss. Alles
schenkte und wurde beschenkt in einem ewigen Kreislauf. Der Lekur drehte seinen
Kopf erneut zum Mütterchen hin, um sie nach der Sonne zu fragen, doch dort war
niemand mehr. Nur sein Herz antwortete ihm: „Die Sonne ist und bleibt - ebenso
wie die Große Mutter. Auch für dich ist gesorgt.“
Lächelnd nickte er. Nun konnte
er frohgemut und voll Vertrauen seinen Rückweg antreten.
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