Donnerstag, 11. Dezember 2025

Die weiße Nacht

 



 
ISBN : 9783492074612
Gebundenes Buch 400 Seiten
Verlag : Piper
Erscheinungsdatum : 02.01.2026
Genre : Krimi
 
Werbung (gemäß §2 Nr.5 TMG)
  
 
 
 

Zeit der (Un)Schuld

 

Berlin war nicht länger der Mittelpunkt der Welt, wenn das überhaupt je der Fall gewesen war. Aus der einstigen Königin war eine zerlumpte Bettlerin geworden, die für ihre Sünden büßen musste.“ (S. 38)

Dezember 1946: Der Hungerwinter hält Berlin fest im Griff. Die Stadt liegt in Trümmern, zerstört durch den 2. WK und aufgeteilt unter deren Besatzungsmächten. Die Menschen hungern, frieren, sind traumatisiert und leben in ständiger Angst – vor den neuen Machthabern, vor Denunzianten, vor Mitmenschen, die ihnen das Letzte nehmen könnten. Sie haben überlebt, aber wirklich leben kann man diesen Zustand kaum nennen. Es ist eher ein mühseliges Existieren.

 

Wir kommen nur schwer wieder ins Leben. Es macht einem Angst, dass es immer weitergeht. Ab und zu versuchen wir, aus dem Loch zu klettern, in das wir gefallen sind. Aber die Toten ziehen uns zurück.“ (S. 391)

Leichenfunde gehören zum Alltag, doch bei der jungen Frau, auf die Lou im Morgengrauen stößt, ist etwas anders. Man sieht nicht, wie sie gestorben ist, aber klar ist, dass sie erst nach ihrem Tod hier abgelegt und in auffälliger Weise drapiert wurde. Die Inszenierung wirkt rituell, wie ein Rätsel. Der Täter will ihnen etwas mitteilen – aber was?

Das sagt Lou auch Kriminalkommissar Alfred König, der zum Tatort kommt. Doch er interessiert sich zunächst mehr für die Fotos, die sie gemacht hat, und die er prompt konfisziert. Erst als weitere Leichen auftauchen und sich die Hinweise auf ein besonders dunkles Kapitel der NS-Zeit verdichten, wird der Ausmaß des Falls deutlich.

 

„Die weiße Nacht“ ist ein extrem spannender und atmosphärisch dichter Auftakt zur neuen Krimireihe von Anne Stern, die im Berlin der Nachkriegszeit spielt. Ihre Protagonisten haben den Krieg und die Nazizeit geradeso überlebt, doch viele von ihnen sind körperlich wie seelisch gebrochen.

Ich habe sonst nichts. Nur die Fotografie. Mit ihr kann ich mir ein Bild von der Welt machen, die ich sonst nicht begreife. Ich kann mit ihrer Hilfe hinter die Dinge sehen, kann sie vielleicht ordnen.“ (S. 377)

Lou und ihr Mitbewohner Bruno haben als einzige ihrer Widerstandgruppe die Strafanstalt Plötzensee überlebt. Lou flüchtet sich in die Fotografie, sucht das Schöne, Hoffnungsvolle in der Trümmerlandschaft, zeigt aber auch die ungeschönte Realität. Sie sieht nicht nur mit ihrer Kamera mehr als andere mit bloßen Augen. Gleichzeitig kümmert sie sich um Bruno, dessen Verstand immer weiter schwindet. König hilf sie, weil die Toten sie faszinieren, oder vielmehr die Art, wie sie inszeniert wurden. Sie kann nicht anders: Sie muss das Rätsel lösen und den Mörder zur Rechenschaft ziehen.

König betrachtete seine Hände mit den gepflegten Fingernägeln voller Selbstmitleid. … Sie waren eher dazu geneigt, ein silbernes Feuerzeug zu halten, auch ein Pokerblatt oder ein Champagnerglas, aber nicht für diese Drecksarbeit. Aber was blieb übrig?“ (S. 33)

König war einst Jurist und Polizist, wurde jedoch von den Nazis weggesperrt, weil er sich gegen das System wandte. Politisch unbedenklich gilt er nun den Russen, die ihn zwangsweise als Kriminalkommissar einsetzen. Das Zuchthaus in Brandenburg hat er nur knapp überstanden, trägt seitdem ein Glasauge und benötigt einen Stock zum Gehen. Sein Körper ist gezeichnet, sein Geist aber ungebrochen – auch wenn er sich schuldig fühlt, weil er die Gefahr des Regimes zu spät erkannte. Sein Vorgesetzter, ein überzeugter Kommunist, erinnert ihn immer wieder daran. „Andere Zeiten, aber dieselben Leute in umgefärbten Uniformen. Die nehmen jeden, der nur einmal beteuert, nicht in der Partei gewesen zu sein. Ganz egal, ob es die Wahrheit ist.“ (S. 54)

 

Anne Stern zeigt eindringlich die ganze Bandbreite der Überlebenden, Gewinner und Verlierer der Stunde Null, ihren täglichen Kampf um Nahrung und Wärme, die Suche nach Angehörigen, das Hoffen, dass jemand überlebt hat, die vielen Waisenkinder, die durch die gefährlichen Trümmer streifen.

Trotzdem stehen die Ermittlungen klar im Vordergrund. König muss improvisieren und ungewöhnliche Wege gehen. Die Kripo wird gerade erst wieder aufgebaut, es fehlt an Personal und Material. Deshalb ist er auf Lous Fotos angewiesen und nimmt sich manche Freiheiten, wie etwa bei der Beschaffung eines Dienstwagens.

Lou soll sich eigentlich raushalten, aber dann stößt sie auf entscheidende Hinweise und gerät in das Visier des Mörders.  

 

Der atmosphärisch dichte, nervenaufreibende Fall hat mich bis zum Schluss gepackt und endet mit einem fiesen Paukenschlag – einem Cliffhanger auf, der die Vorfreude auf die Fortsetzung noch größer macht. Eine klare Empfehlung für Fans von Gereon Rath oder August Emmerich.

Keine Kommentare: