Paul M. Belt
Die Ehre
des Intars
„Rengat, das kann ich
unmöglich tun.“ Mit diesen Worten, da war sich Ken sicher, war sein Schicksal
besiegelt. Die Anweisung eines Höhergestellten, noch dazu des Zweiten Rengats
einer Hauptloge, abzulehnen - ein solches Sakrileg würde man ihm nicht
verzeihen. Drei Zyklen lang war er nun schon treuer Intar der Rundeichenreiter
zu Bursiga. Alles hatte er nach seiner Initiation überstanden: Rittübungen mit
komplexen Figuren, das Auswendiglernen wichtiger Texte, Gewaltmärsche, Hilfe bei
der Pflege von Angehörigen des Klans ... und nun hatte er sich mit einem
einzigen Satz alles kaputtgemacht. Hier, im schmuckvoll eingerichteten
Logenquartier des Rengats, stand er gesenkten Hauptes und war der Verzweiflung
nahe. Noch heute Abend würde er seiner Familie berichten müssen, unehrenhaft
aus dem Klan entlassen worden zu sein.
Rengat Gers
Jalobak sah sein Gegenüber scharf an, holte tief Luft und polterte: „Sie
weigern sich allen Ernstes, diesen äußerst wichtigen und delikaten Auftrag zu
erfüllen? Ich habe Ihnen doch erklärt, dass Rolf Hagelek in Ungnade gefallen
ist. Der symbolische Ast des ehemaligen Lekurs darf nach dessen Ausschluss
nicht länger am Logenbaum verweilen, er muss abgehauen werden!“ Immer
energischer wurde sein Ton beim Sprechen.
Ken
straffte seine Gestalt, sah seinem Vorgesetzten in die Augen und erwiderte mit
fester Stimme: „Mit Verlaub, Rengat: Als Jungintar lernte ich die Regeln des
Reitertums. Eine der wichtigsten davon besagt, dass es uns untersagt ist,
Bäumen bewusst Schaden zuzufügen. Gemäß der Interpretation dieser Regel durch
die Vollversammlung, niedergelegt im Achten Dekret, bedeutet dies konkret: Nur
in bestimmten Fällen, beispielsweise dass vorhandenes Bruchholz zum Bau einer
dringend notwendigen Behausung nicht ausreicht, darf nach Zustimmung eines
Laubbaumes diesem ein Zweig oder Ast entfernt werden. Hier jedoch liegt kein
solcher Fall vor. Ich glaube weiterhin kaum, dass es im Interesse des Klans
liegt, dass ausgerechnet sein Logenbaum derart verstümmelt werden soll.“
Gers
schritt langsam um Ken herum, bis er schließlich mit ernster Miene vor ihm
stehen blieb und nickte. Dann sah er ihm seinerseits tief in die Augen, legte
seine rechte Hand auf die Schulter des überraschten Intars und sagte würdevoll:
„Intar Ken Talomak, Sie haben nicht nur die Regeln des Reitertums
verinnerlicht, sondern durch Ihr soeben gezeigtes Handeln auch Mut und
Ehrenhaftigkeit bewiesen. Die Zeit der Keysore ist zum Glück vorbei, wir
erwarten keine blinde Unterwürfigkeit gegenüber Höhergestellten, sondern neben
respektvollem Gehorsam auch Standfestigkeit und Eigeninitiative. Auf der
gestrigen Klausur mit unserem Ersten wurden Sie für die Position meines Dritten
Lekurs vorgeschlagen. Wie ich sehe, war der Vorschlag nicht unbegründet. Intar
Talomak, hiermit ernenne ich Sie offiziell zum Lekur des Klans der
Rundeichenreiter. Bitte folgen Sie mir zur Entgegennahme Ihres neuen
Rittmantels.“
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