Donnerstag, 6. Juli 2017

Die Ehre des Intars - Neues aus Nian


Paul M. Belt


Die Ehre des Intars

Rengat, das kann ich unmöglich tun.“ Mit diesen Worten, da war sich Ken sicher, war sein Schicksal besiegelt. Die Anweisung eines Höhergestellten, noch dazu des Zweiten Rengats einer Hauptloge, abzulehnen - ein solches Sakrileg würde man ihm nicht verzeihen. Drei Zyklen lang war er nun schon treuer Intar der Rundeichenreiter zu Bursiga. Alles hatte er nach seiner Initiation überstanden: Rittübungen mit komplexen Figuren, das Auswendiglernen wichtiger Texte, Gewaltmärsche, Hilfe bei der Pflege von Angehörigen des Klans ... und nun hatte er sich mit einem einzigen Satz alles kaputtgemacht. Hier, im schmuckvoll eingerichteten Logenquartier des Rengats, stand er gesenkten Hauptes und war der Verzweiflung nahe. Noch heute Abend würde er seiner Familie berichten müssen, unehrenhaft aus dem Klan entlassen worden zu sein.

Rengat Gers Jalobak sah sein Gegenüber scharf an, holte tief Luft und polterte: „Sie weigern sich allen Ernstes, diesen äußerst wichtigen und delikaten Auftrag zu erfüllen? Ich habe Ihnen doch erklärt, dass Rolf Hagelek in Ungnade gefallen ist. Der symbolische Ast des ehemaligen Lekurs darf nach dessen Ausschluss nicht länger am Logenbaum verweilen, er muss abgehauen werden!“ Immer energischer wurde sein Ton beim Sprechen.

Ken straffte seine Gestalt, sah seinem Vorgesetzten in die Augen und erwiderte mit fester Stimme: „Mit Verlaub, Rengat: Als Jungintar lernte ich die Regeln des Reitertums. Eine der wichtigsten davon besagt, dass es uns untersagt ist, Bäumen bewusst Schaden zuzufügen. Gemäß der Interpretation dieser Regel durch die Vollversammlung, niedergelegt im Achten Dekret, bedeutet dies konkret: Nur in bestimmten Fällen, beispielsweise dass vorhandenes Bruchholz zum Bau einer dringend notwendigen Behausung nicht ausreicht, darf nach Zustimmung eines Laubbaumes diesem ein Zweig oder Ast entfernt werden. Hier jedoch liegt kein solcher Fall vor. Ich glaube weiterhin kaum, dass es im Interesse des Klans liegt, dass ausgerechnet sein Logenbaum derart verstümmelt werden soll.“

Gers schritt langsam um Ken herum, bis er schließlich mit ernster Miene vor ihm stehen blieb und nickte. Dann sah er ihm seinerseits tief in die Augen, legte seine rechte Hand auf die Schulter des überraschten Intars und sagte würdevoll: „Intar Ken Talomak, Sie haben nicht nur die Regeln des Reitertums verinnerlicht, sondern durch Ihr soeben gezeigtes Handeln auch Mut und Ehrenhaftigkeit bewiesen. Die Zeit der Keysore ist zum Glück vorbei, wir erwarten keine blinde Unterwürfigkeit gegenüber Höhergestellten, sondern neben respektvollem Gehorsam auch Standfestigkeit und Eigeninitiative. Auf der gestrigen Klausur mit unserem Ersten wurden Sie für die Position meines Dritten Lekurs vorgeschlagen. Wie ich sehe, war der Vorschlag nicht unbegründet. Intar Talomak, hiermit ernenne ich Sie offiziell zum Lekur des Klans der Rundeichenreiter. Bitte folgen Sie mir zur Entgegennahme Ihres neuen Rittmantels.“

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