Einer liebt immer mehr …
„Ihr konnte es nicht dramatisch genug sein, und die Romantik durfte dabei auch nicht zu kurz kommen. Sie wollte schwärmen und laut aufseufzen, mit um ein Leben und die große Liebe flehen.“ (S. 19)
Prag 1916: Milena ist 20, als sie den Literaturkritiker Ernst Pollak kennenlernt. Ihr Vater ist ein angesehener Kieferchirurg, an Geld und Ansehen mangelt es ihr nicht, aber an Liebe. Sie darf als eine der wenigen Frauen studieren, weiß aber noch nicht, was sie später machen will. Pollak scheint sich wirklich für sie zu interessieren, führt sie in den Prager Literaturzirkel ein, nimmt sie in die angesagten Caféhäuser mit – und lässt sich von ihr verführen. Doch er ist ein deutscher Jude und als solcher in den Augen ihres Vaters völlig untragbar – schon gar nicht als Ehemann! Doch „Er verkörperte für sie Freiheit und Selbstbestimmung, ein Leben jenseits der bürgerlichen Moral.“ (S. 25). Als Milena volljährig ist, heiraten sie und gehen zusammen nach Wien. Dort folgt die Ernüchterung, Pollak hat das mit der „Freiheit“ wörtlich gemeint. Er besteht auf getrennten Bereichen in der Wohnung, damit seine wechselnden Partnerinnen sie nicht stören. Auch für ihren Unterhalt muss sie selbst sorgen. Da erinnert sie sich an Franz Kafka, den Pollak ihr in Prag kurz vorgestellt hatte und dessen Werke sie sehr beeindruckt haben. Sie schreibt ihn an und schlägt vor, seine Texte ins Tschechische zu übersetzen, es entwickelt sich eine Brieffreundschaft. Milena fühlt sich endlich verstanden und fiebert seinen Briefen entgegen, verliebt sich in ihn und ihm scheint es genauso zu gehen – aber kann diese Liebe auch in der Wirklichkeit bestehen?
Ich hatte bis zu diesem Buch von Stephanie Schuster noch nie von Milena gehört, dabei war sie eine sehr interessante Persönlichkeit. Als sie Pollak kennenlernt, sieht sie sich als moderne und unabhängige junge Frau, lebt allerdings vom Geld ihres Vaters. Sie ist recht naiv, mit einer überbordenden Fantasie gesegnet, und steigert sich schnell in etwas hinein. Milena glaubt, hofft, Pollack eine ebenbürtige Partnerin zu sein, überwirft sich mit ihrem Vater und verzichtet auf ihre Mitgift. Da sie schon immer gern geschrieben hat denkt sie, dass sie davon leben kann. Doch in Wien ist sie auf sich allein gestellt, kommt mit der Sprache und Lebensart nicht klar, hat keine Freunde. Der erste Weltkrieg ist gerade vorbei, die Lage immer noch schlecht. Sie arbeitet als Kofferträgerin am Bahnhof und erteilt privaten Tschechisch-Unterricht. Nebenbei schreibt sie erste Artikel über das, was sie erlebt.
Ihr Briefwechsel mit Kafka wird schnell privat, ihre Flucht aus dem Alltag. Sie scheinen ähnlich zu empfinden, schreiben sich unermüdlich. Und wie schon bei Pollak, steigert sich Milena auch in diese „Beziehung“ bald hinein, denn Kafka macht Andeutungen, die man durchaus als Eheversprechen interpretieren könnte. Aber er zieht er sich auch immer wieder zurück. Sie ist die treibende Kraft, er die verzagte Künstlerseele, auf die Rücksicht genommen werden muss. Es wird ein ewiges Hin und Her, eine Liebe, die anscheinend nur in ihren Briefen Erfüllung findet. Doch Milena gibt nicht auf.
Milena hat im Laufe des Romans eine großartige Entwicklung durchmacht, von der jungen Naiven zur gefragten, eigenständigen Journalistin, einer Persönlichkeit, die den Ungerechtigkeiten der Welt auf den Grund geht und ihr einen Spiegel vorhält, sich von Männern nichts sagen lässt, schon gar nicht wie und mit wem sie lebt oder über was sie schreibt.
Stephanie Schuster schreibt über zwei starke, leidenschaftliche Persönlichkeiten, die unterschiedlicher kaum sein könnten, sich anziehen und abstoßen, aneinander reiben und daran wachsen. „Kafka hatte sie sehen gelehrt … Mithilfe seiner Geschichten, durch seine Augen hatte sie ihre Wahrnehmung geschärft.“ (S. 324) Sie erzählt von einer überschwänglichen Liebe, die man heute noch in Kafkas Briefen nachlesen kann – Milenas sind leider nicht erhalten. Dabei schildert sie Prag und Wien und die Künstlerszene der damaligen Zeit sehr lebendig und anschaulich, fesselt den Leser und zieht ihn in Milenas Welt. Ich habe bis zuletzt mitgefiebert, ob sie sich nun bekommen oder nicht.
5 Sterne und meine Leseempfehlung.
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