Ungeküsst
„Was von einem Leben übrig bleibt, ist wirklich nicht viel. Jedenfalls nicht, wenn die sperrigen Dinge – Kühlschrank, Sitzgruppe, Leichnam – in Kisten verpackt und entsorgt sind.“ (S. 7) Eddies Worte klingen abgeklärt und lakonisch, doch der 90-Jährige ist nicht zynisch – nur realistisch. Seit 12 Jahren arbeitet er ehrenamtlich in einem Wohltätigkeitsladen, in dem vor allem Nachlässe aus der benachbarten Sozialsiedlung landen. Vieles ist wertlos, aber Eddie sortiert sorgfältig jene Dinge aus, von denen er weiß: Die Angehörigen könnten sie eines Tages doch zurückwollen – wenn der Schmerz nachlässt.
So wie Bella mit den pinken Haaren. Mitte 20, frisch verwitwet, hat sie gerade ihre große Liebe Jake verloren. Als sie Eddie auf einer Parkbank wiedertrifft, entsteht eine ungewöhnliche Freundschaft. Sie erzählt ihm von ihrem Kennenlernen und dem ersten Kuss – und staunt, dass Eddie mit 90 noch ungeküsst ist. Er hat seine erste und einzige Liebe 1968 zum letzten Mal gesehen, sie war leider schon verheiratet. Bella ist überzeugt, dass es auch mit 90 noch nicht zu spät für den ersten Kuss ist, aber Eddie meint: „Ich denke oft, wenn es hätte sein sollen, dann wäre es inzwischen passiert. Vielleicht ist es mir einfach nicht bestimmt, einen ersten Kuss zu bekommen.“ (S. 65) Doch Bella will sich damit nicht abfinden und meldet ihn kurzerhand auf einer Datingplattform für Senioren an.
Eddie ist ein liebenswürdiger Gentlemen alter Schule, der wie aus der Zeit gefallen scheint, aber mit 90 seine Liebe zur Mode entdeckt. Er trägt die außergewöhnlichen Kleidungsstücke, die im Wohltätigkeitsladen abgegeben werden. Außerdem ist er hoffnungslos romantisch, was schon seine Doktorarbeit in Linguistik zeigt „Mit einem Kuss besiegelt: Darstellungen von Liebe in der Literatur“. Auf der Datingplattform und im Alltag zieht er durchaus noch Aufmerksamkeit auf sich, aber er kann seine große Liebe Birdie einfach nicht vergessen und hofft immer noch, sie wiederzufinden.
Bella fürchtet, nie über Jake hinwegzukommen. Aber im Bemühen, Eddie zu verkuppeln, beginnt auch ihr Herz ganz langsam und fast unbemerkt, zu heilen.
Die dritte Erzählperspektive ist Eddies große Liebe Birdie. Von 1954 bis 1968 gewährt sie Einblicke in ihr Leben, ihre Ehe und die Begegnungen mit Eddie.
„Eddie Winston sucht die Liebe“ ist eine zarte, berührende Geschichte über Freundschaft und Liebe, Verlust und Trauer und zweite Chancen. Marianne Cronin erzählt sie warmherzig, aber die vielen Perspektivwechsel und Zeitsprünge sowie die kurzen Kapitel bremsen den Lesefluss leider stellenweise aus.
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